Als wir mit dem humpelnden Seth zum Auto gingen, war es schon später Nachmittag. Er grinste vor sich hin, als er endlich wieder in das warme Sonnenlicht trat, das sich pünktlich hinter den Wolken hervor gekämpft hatte. Genau wie Alice gesagt hatte.
Alle liefen hektisch um uns herum, packten letzte Körbe in die Autos und suchten Mitfahrgelegenheiten. Das gleiche Chaos wie immer.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist, wenn du wieder in der Natur bist“, flüsterte er mir, gegen das Auto gelehnt zu. „Ich hab alles, was ich brauche.“ Sein Grinsen wurde noch breiter, heller und liebevoller. Ich strahlte zurück.
„Leute! Nicht flirten! Entweder ihr steigt jetzt ein, oder wir müssen ohne euch fahren!“
Jacob.
Seth warf ihm einen finsteren Blick zu.
„Jetzt macht halt, ich hab Hunger!“ Seth schüttelte nur den Kopf und drehte sich langsam um, während ich kichernd die Autotür öffnete. Er kletterte hinein und ich lief auf die andere Seite.
Kaum war die Tür zugeschlagen, startete Jake auch schon den Motor und folgte den anderen Autos.
Er plauderte mit Embry, der auf dem Beifahrersitz saß und ließ uns in Ruhe. Jedenfalls mit Bemerkungen.
Seine Blicke im Rückspiegel spürte ich trotzdem, doch es war mir ziemlich egal.
Seth lächelte mich an, spielte mit meinen Fingern und schaute ab und zu aus dem Fenster. Er hatte den Wald seit Tagen nicht betreten und würde ihn auch heute nur aus dem Auto sehen.
Nach einigen Minuten hatten wir unser Ziel bereits erreicht und es raubte mir den Atem. Alles war so überirdisch schön wie beim ersten Mal.
Die Wiese sah noch schöner aus, überall blühten Wildblumen in den verschiedensten Farben.
Die Berge wurden von der Sonne in ein diffuses, goldenes Licht getaucht, das Meer spiegelte den Himmel in tausend Facetten.
Dieser Ort hoch über den Klippen würde immer etwas magisches haben.
„So Leute, alle aussteigen!“ Jacob hatte Seths Tür geöffnet und half ihm hinaus. Schnell kletterte ich aus dem Wagen und nahm zwei der Körbe aus dem Kofferraum.
Die anderen hatten bereits angefangen, die Decken mitten auf der Wiese auszubreiten, rundherum um die Feuerstelle.
Es sah gemütlich aus und wirkte auch jetzt, wo die Sonne noch nicht untergegangen war, schon romantisch. Dass es ein wundervoller, besonderer Abend werden würde, stand jetzt schon fest.
Ich nahm die Körbe unter meinen rechten Arm und stützte Seth mit dem anderen.
Wirklich alle Anwesenden lächelten uns zu und freuten sich, dass ihr Bruder endlich wieder auf den Beinen war.
Emily lehnte sich grinsend über meine rechte Schulter und schielte auf die geflochtenen Körbe.
„Was bringst du uns schönes, Amylein?“
Ich überließ es Connor, seinen Wolfsbruder zu stützen und drehte mich zu Emily um. Ihr Anblick war mir in den letzten Wochen so vertraut geworden, dass ich ihre Narben kaum noch wirklich sah.
Ich hielt den ersten Korb hoch. „Einmal Sues geheimen Nudelsalat und die Barbecuesaucen“, ich wechselte die Hand um ihr den anderen zu zeigen, „und einmal Besteck für 15 Personen und Teller für 20.“
„Super. Kannst du das Besteck und die Teller zu Kim auf die Decken bringen und den Salat zu Jared an den Grill?“
„Kein Problem.“
„Okay, gut. Hilfst du mir danach bitte noch mit den Brötchen aus Jareds Auto?“
„Klar, ich komme sofort.“ Ich lächelte ihr zu.
„Danke, Amy.“ Und schon rauschte sie wieder davon.
Seth grinste mir zu. „Sie ist klasse.“
„Ja, sie ist ein Engel.“ Emily war so ein guter Mensch, immer so fürsorglich und jederzeit zur Stelle, wenn es ein Problem gab.
Damit überlas ich Seth dem Rudel und lief von Kim zu Jared und von Jared zu dessen Auto.
Emily stand über den Kofferraum gebeugt am Auto und schob Kisten hin und her. Als sie mich bemerkte, drehte sie sich um.
„Welche Kiste soll wohin?“, fragte ich motiviert.
„Die rote hier wieder an den Grill.“ Sie zeigte auf die Brötchenkiste, aber reichte sie mir nicht.
„Amy, ich …“ Für einen kurzen Moment hielt sie inne, bevor sie selbstbewusster weitersprach. „Ich weiß genau, dass du Valeria nicht magst und sie wahrscheinlich am liebsten gar nicht mehr sehen möchtest, aber wäre es sehr schlimm, wenn sie heute hier wäre? Ich meine, sie ist sowieso so selten hier und ansonsten muss sie den ganzen Abend allein verbringen. Ich weiß, dass sie nicht der Traum aller Mütter ist, aber so schlimm kann es ja nicht wirklich werde. Oder? Was meinst du?“
Wow. Das kam unerwartet. Während der letzten Woche hatte ich sie fast vergessen. Jetzt drehte sich alles. Heute Abend. Mein Umzugsgeständnis. Dieser magische Ort. Seth. Valeria?
Allerdings waren wir heute Abend so viele Leute und mit mir würde sie sowieso nicht reden wollen.
„Ich hätte sie wirklich gerne dabei, Amy. Bitte.“ Sie sah nervös aus und hatte etwas in ihren Abend, was mir unbekannt war. Etwas Unsicheres. Aufregung. Angst. Freude.
Die Unsicherheit der selbstsicheren Emily gab den letzten Ausschlag. Es schien ihr wirklich wichtig zu sein. „Von mir aus kann sie kommen.“
„Oh danke, Amy!“ Lächelnd reichte sie mir die Brötchenkiste und holte ihr Telefon aus ihrer Hosentasche.
Leicht verwirrt von Emilys Verhalten trug ich die Kiste zu Jared, der noch immer am Grill stand, schaute kurz bei Seth vorbei, der sich mit den Jungs über Baseball unterhielt und setzte mich dann zu Leah und Kim, die auf der Decke saßen und Servietten falteten.
„Valeria kommt“, sagte ich geradeheraus.
Leah warf mir einen qualvollen Blick zu. „Nein!“
„Doch. Emily hat mich eben gefragt, ob es okay wäre.“
„Und du hast ja gesagt?“ Leah wirkte so entsetzt, dass es schon fast wieder lustig war.
„Ich konnte es ihr nicht abschlagen. Sie sah so … unsicher und verletzlich aus.“ Ich runzelte die Stirn.
Leah ebenso. „Emily? Emily Uley? Unsicher?“
„Ja! Das hab ich mir auch gedacht! Ich hab keine Ahnung, was mit ihr los ist.“
„Seltsam“, sagte Kim. „Vorhin, als Jared und ich bei ihr und Sam waren, wegen der Bestellung, da war sie auch so komisch. Richtig nervös und aufgedreht.“
„Vielleicht ja wegen heute Abend“, schlug Leah vor, doch schien nicht wirklich daran zu glauben.
„Eher nicht. Nicht mal bei ihrer eigenen Hochzeit war sie so drauf“, meinte Kim.
„Naja, wir werden es schon noch rausfinden“, sagte Leah und grinste uns an. „Wann gibt’s Essen?“
Wie bei jedem Essen, waren unsere Männer hungrig wie Wölfe. Es war ja schon immer faszinierend, wie viel Seth alleine verputzte, aber alle zusammen? Unglaublich.
In der heißen Grillphase standen sie zu fünft am Grill – oder eher gesagt ‚den Grillen‘. Vier Stück standen neben einander – große natürlich – und alle voll beladen mit blutroten Steaks und bräunlich-rötlichen Würstchen.
Es roch himmlisch. Nach einem perfekten Sommerabend mit Freunden.
Wir saßen und lagen auch schon alle um das entfachte Feuer herum, redeten und lachten.
Seth hatte seine Beine ausgestreckt und ich lehnte gemütlich an seiner Seite. Alles war perfekt.
Selbst als Valeria kam und sich zu Emily auf die andere Seite des Feuers setzte, ging es mir blendend.
Als ich Seth gesagt hatte, dass sie kommen würde, war er zuerst ein bisschen wütend gewesen, hatte sich dann aber schnell wieder gefasst und mir dann seinen Plan für den Abend erläutert:
Valeria ignorieren.
Ganz simpel und effektiv. Wir zählen, nicht sie.
Also hielt er mich in seinen Armen, erzählte seinen Brüdern Geschichten und schaute nicht einmal in Valerias Richtung.
Ignorieren hatte er voll drauf.
Ich lächelte in mich hinein, drehte meinen Kopf und erstickte seine Worte über irgendwelche Hockeyspieler mit meinen Lippen. Er war erst überrumpelt von meinem spontanen Gefühlsausbruch, doch dann spürte ich ihn Lächeln. Die anderen waren sowas von egal. Wir zählen, nicht sie.
Natürlich mussten wir uns später noch einiges zu meiner Spontanaktion anhören, aber zum Glück hatte Claire nichts mitbekommen.
Die Sonne stand nur knapp oberhalb des Horizonts als Sam, Jared und Jacob endlich mit der ersten Runde Steaks und Würstchen ankamen. Die Platten waren leer, bevor sie auf den Decken standen und es begann ein buntes Durcheinander von Leuten, die nach Soßen fragten, Brötchen suchten und Salat herumreichten.
Alle redeten weiter, aßen, lachten und genossen die Gemeinschaft.
Einige Zeit später waren alle Schüsseln und Körbe leer und der Hunger unserer Wölfe gesättigt. Wir waren zum gemütlichen Teil des Abends übergegangen, erzählten Geschichten, lachten und hörten Jared zu, der neulich angefangen hatte, Gitarre zu spielen.
Die Sonne war schon untergegangen, aber der Himmel über dem Meer leuchtete immer noch feuerrot.
Seth stieß mich grinsend in die Seite und nickte zur anderen Seite des Feuers, wo Valeria den unbeholfen aussehenden Brady mit seinem hochroten Kopf auf die Beine zog und aus unserem Blickfeld weg zu den Autos führte. Ringsherum um das Feuer brachen unsere Freunde in Gelächter und Anspielungen aus.
Ich grinste zu Seth zurück, der irgendwas davon murmelte, dass sie ja jetzt ihr nächstes Opfer gefunden hätte. Armer Brady. Aber auch selbst schuld, dachte ich.
Als sich die Lage wieder beruhigt hatte, stand Sam auf und forderte unsere Aufmerksamkeit.
Er blickte zu Emily hinab und half ihr hoch.
„Wir haben euch etwas zu sagen.“ Sam versuchte ruhig zu bleiben, wie immer, doch er trug den gleichen Ausdruck in seinen Augen wie Emily zuvor.
Aber da war noch mehr. Sein Gesicht spiegelte Stolz wieder. Stolz, den ich von meinem Vater kannte, wenn Tyler ein Fußballspiel gewann oder er ohne Aufforderung das Haus geputzt hatte.
„Moment!“ Die jetzt total aufgedrehte Emily schaute ihren Mann an. „Valeria!“ Und dann lief sie los, in die Richtung, in die ihre Cousine verschwunden war.
Peinlich berührt und vollkommen nervös, so wie man Sam Uley noch nie gesehen hatte, stand er auf der anderen Seite des Feuers und starrte auf seine Hände.
Die beiden machten uns alles verrückt.
„Sam, was ist passiert?“, fragte Jacob, der mit Überraschungen häufiger so seine Probleme hatte.
Sam schaute erschrocken hoch.
„Nichts schlimmes, oder?“ , fragte Kim besorgt.
Sam lächelte. „Nein, nichts schlimmes.“
Und damit wanderte sein Blick zurück zu Emily, die mit gesenktem Kopf zurück kam, Brady und Valeria ebenso hinter ihr.
Vielleicht war es das Licht, aber es sah aus, als hätte Brady Lippenstift auf der Wange.
Hätten Sam und Emily uns nicht so auf die Folter gespannt, hätten die anderen beiden sicher noch einiges zu hören bekommen.
Sam atmete noch einmal tief durch. „Wir haben euch etwas zu sagen.“ Er strahlte seine Frau an und drückte ihre Hand.
Emily lächelte zurück, löste ihren Blick von Sam und ließ ihn über die Gemeinschaft schweifen.
„In der nächsten Zeit … werde ich wohl etwas kürzer treten müssen.“ Tränen stiegen ihr in die Augen, aber ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Alle starrten sie unverwandt an, bevor sie ihre Botschaft verkündete.
„Ich bin schwanger.“
Und damit brach sie komplett in Tränen aus. Sie strahlte Sam an, dessen Stolz und Freude jetzt endlich komplett aus ihm herausbrachen. Auch in seinen Augen standen die Tränen.
Nach einer Sekunde sprangen alle auf, jubelten, wollten gratulieren und freuten sich mit den beiden.
Seth nahm mich in die Arme und humpelte mit mir auf die andere Seite zu den werdenden Eltern.
Alle umringten die beiden, gratulierten, stellten Fragen und strahlten mit. Das Rudel bekam Zuwachs. Welpen.
Seth schlug seinem früheren Alpha anerkennend auf die Schulter und ich fiel Emily um den Hals.
Es gab keine Worte für ihre Freude. Es machte uns alle so glücklich, dass diese beiden glücklich waren! Nach allem, was sie durchgemacht hatten, war es einfach nur gerecht.
Die nächste halbe Stunde verbrachten wir damit, Sam und Emily mit Fragen zu löchern und über Namen zu diskutieren.
Ob Junge oder Mädchen stand noch nicht fest und Emily wollte es auch nicht wissen. Geburtstermin sollte im Februar sein, also war noch allerhand Zeit für Namensvorschläge und Zimmereinrichtungen.
Nachdem sich die Aufregung über diese euphorisierende Überraschung, die sicherlich Gesprächsthema Nummer 1 der nächsten Wochen sein würde, etwas gelegt hatte, hatte ich mich wieder an Seth gekuschelte und genoss die wunderschöne Sommernacht.
Jetzt aber drehte ich mich in Seths Armen und zog mich aus seiner Umarmung zurück.
Meine Zeit war gekommen, das wusste ich. Mein Herz raste.
Seth zog seine Augenbraun hoch, grinste mich allerdings immer noch an. „Was ist los?“, fragte er.
„Komm mit“, war alles, was ich sagte, dann reichte ich ihm meine Hand und half ihm hoch.
Wir humpelten unter verwunderten Blicken zu den Klippen, ohne ein Wort der Erklärung.
Als ich mich umdrehte, sah ich allerdings, wie Leah sich zu Kim beugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte, worauf sie die Augen aufriss und sie anstrahlte, bevor sie in unsere Richtung schaute.
„Was ist los, Amy?“, fragte er mich erneut von der Seite, grinste immer noch, als er unsere Richtung verfolgte, war aber ansonsten vollkommen ahnungslos.
Und ich schwieg weiter, während wir an den einen magischen Ort humpelten, um unter dem einen Baum zu sitzen, über das nun im Mondschein schimmernde Meer zu blicken und die Gewissheit zu teilen, dass wir niemals wieder getrennt sein mussten.
Seth grinste mich neugierig an, als wir unter dem Baum anhielten und ich ihm half, sich an den Stamm zu setzen, sodass er sich mit Blick auf den tiefschwarzen Ozean anlehnen konnte.
Die Stimmen der anderen waren hier nur noch ein leises Summen, das sich mit der Brandung unter uns vermischte.
Ich setzte mich auf das noch warme Gras neben ihn und lehnte mich an. Es roch nach ihm und nach Sommer.
Trotz der Wärme zitterte ich am ganzen Körper, als er seinen Arm um mich legte und mir sanft über den Rücken strich. Der Kloß in einem Hals schwoll an.
„Amy.“ Er schaute mir in die Augen, so wie er es immer tat. Er sprach meinen Namen mit so viel Liebe aus, wie er es jedes einzige Mal tat. Und der Klang sorgte bei mir jedes einzige Mal für Gänsehaut. „Was immer es ist, du kannst es mir sagen, das weißt du.“ Das Grinsen war Besorgtheit gewichen, doch als ich ihn mit Tränen in den Augen anlächelte, sah ich wieder dieses aufmunternde Lächeln, das wirklich jedem Mut machen musste, egal wie schlimm seine Lage war.
Ich holte tief Luft, nahm all meinen Mut zusammen und flüsterte.
„Wir ziehen um, Seth.“
Einen momentlang starrte er mich einfach nur perplex an, dann runzelte er seine Stirn. Scheinbar wusste er nicht, was ich ihm damit sagen wollte. Er schwankte zwischen Hoffnung und Trauer.
„Was? Wer? Wie, wohin?“
Seine Blindheit brachte mich zum Lachen, die Tränen flossen weiter.
„Wir, das ist meine Familie. Mum, Dad, Tyler und ich. Wir ziehen um.“ Ich strahlte ihn an. „Von Washington nach Washington.“
Wieder dauerte es einige Bruchteile von Sekunden, die sich wie Stunden anfühlten, doch dann begriff er.
Endlich.
„Nein!“, schrie Seth und fiel mir freudestrahlend um den Hals. „Amy, nein! Oh mein Gott!“ Er schaute mich an und schloss mich wieder in seine starken, warmen Arme. „Oh mein Gott! Oh mein Gott! Oh mein Gott!“
Er hielt mich einfach nur fest und atmete tief ein.
„Seit wann …? Wie ..?“
Meine Mundwinkel wanderten noch weiter nach oben. „Ich hab‘ mit Carlisle geredet. An dem Tag nach … du weißt schon. Er hat alles in die Wege geleitet und die Versetzung von meinem Vater organisiert. Mum hat heute Morgen angerufen, als du noch geschlafen hast.“
Ich schmiegte mich noch näher an ihn. „In zwei Wochen fängt mein Dad in Port Angeles an. Passend zum Schulstart.“ Seth küsste meinen Hals und brachte meine Konzentration total durcheinander. „Wir können zusammen zur Schule gehen, jeden Tag zusammen ein. Ich werde dich nie wieder verlassen müssen. Nie wieder in meinem ganzen Leben.“
Seth Lippen wanderten zu meinen und raubten wir den letzten klaren Gedanken.
„Nie wieder“, flüsterte er.
The End.
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